Vielfältig und hoffnungsvoll: Das Leitbild des 50. Sehsüchte-Programms

Um ein Festivalprogramm zu kuratieren, reicht es nicht, die eingereichten Filme in gut und schlecht einzuteilen. Vielmehr bedarf es einer festivalspezifischen Philosophie des Auswählens und Inbezugsetzens.

Als der Call for Entries Anfang des Jahres sein Ende fand, galt es über 1000 eingereichte Filme zu sichten, auszuwählen und zu programmieren. Im Gegensatz zu all den Sehsüchte-Jahren zuvor, vollzog sich dieser Prozess inmitten einer Pandemie und musste aus Sicherheitsgründen in die Heimkinos der programmverantwortlichen Teammitglieder verlegt werden. Die Kinos der Filmuniversität waren gesperrt und konnten nicht von unseren “Programmies” als gemeinsamer Raum des Filmerlebens und des Austauschs genutzt werden. Das war ein herber Schlag. Umso wichtiger war es daher, sich auf ein kuratorisches Fundament zu verständigen, um trotz aller Distanz und Zersplitterung als eine gemeinsame Auswahlkommission arbeiten zu können.

Sehsüchte Filmprogramm
Filmstill aus dem Dokumentarfilm Negra (R.: Medhin Tewolde Serrano), der dieses Jahr im Sehsüchte-Programm läuft.

Grundsätzlich reicht es ohnehin nicht, Filme bloß in gut und schlecht einzuteilen, um ein Festivalprogramm auszuwählen. Schließlich will man nicht nur gute Filme sehen, sondern auch möglichst unterschiedliche und vielfältige. Sehsüchte, als größtes europäisches Studierendenfilmfestival, hat den Anspruch, die Breite des internationalen Nachwuchsfilms zu erfassen – in all seinen Überschneidungen und Widersprüchen. Hinzu kommt, dass 2021 zwar das 50. Jubiläum ansteht, das Sehsüchte als Institution eine symbolische Standfestigkeit verleiht. Gleichzeitig wütet aber auch ein globales Virus, das jede geglaubte Form von Beständigkeit, insbesondere hinsichtlich der Kultur, infrage gestellt hat. All das sollte Teil unserer Festival- und somit auch unserer Programmphilosophie sein. Was waren also nun die konkreten Motive hinter der Filmauswahl?

Sehsüchte – unser Leitbild

Das Programm des 50. Sehsüchte hat die Aufgabe sowohl auf das zu schauen, was war, als auch auf das, was noch kommen mag. Getreu unserem Motto IGNITE wollen wir die erloschenen Feuer rekapitulieren, aber auch neue Flammen entzünden. Die kommende Generation von Filmemacher:innen baut, wie jede Generation vor ihr, auf dem bestehenden, filmischen Schaffen auf und macht zugleich Vorschläge für dessen Zukunft. Sie stellt Forderungen, konstruiert Utopien, spricht alarmierende Warnungen aus und legt formal sowie thematisch den Finger in die Wunde. All diese Facetten sollte unser Programm abbilden und der Breite des internationalen Filmschaffens gerecht werden.

Egal welches Genre, egal welche Thematik, egal welche Geschmacksrichtung, wir scheuen uns nicht vor gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Kontroversen. Wir sind nicht das Nadelöhr westlich geprägter, kulturindustrieller Befindlichkeiten, das Filme primär nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner und angeblich entscheidenden Messgrößen filmischen Handwerks, wie der Qualität der Kamera, des Schnitts oder des Schauspiels, aussortiert. Wir sortieren danach aus, ob Filme Brandbeschleuniger, Entfesselungskünstler oder Traumschlösser sind.

Unser Programm ist vielfältig – vor und hinter der Kamera. Wir wollen Menschen sehen, die sonst nicht gesehen werden. Wir wollen Stimmen hören, die sonst nicht gehört werden. Wir wollen Filme zeigen, die uns Hoffnung geben. Die Filme in unserem Programm entblößen den Hass, anstatt ihn zu reproduzieren. Sie sind aufrichtig, obwohl die Welt um sie herum zynisch ist. Sie mystifizieren, auch wenn alles aufgeklärt scheint. Wir brauchen diese Filme und darüber hinaus brauchen wir das Kino – jetzt erst recht.

Sehsüchte Filmprogramm
Endlich wieder KINO! Wir freuen uns sehr, das Filmprogramm in den Kinos vor Ort zu zeigen. Wer es nicht in die Kinos schafft, hat die Möglichkeit das Filmprogramm Online zu streamen. Foto: Johanna Peters © Sehsüchte 2020

Wir sehen uns!

Das war unser Kompass bei der Filmauswahl und Programmierung des 50. Sehsüchte. Ob wir unseren eigenen Ansprüchen gerecht werden konnten, kann schlussendlich jede:r Festivalbesucher:in selbst herausfinden. Wir sind jedenfalls froh trotz aller Corona-Beschränkungen mithilfe eines gemeinsamen Leitbilds, ein hoffnungsvolles und vielfältiges Programm auf die Beine gestellt zu haben. 107 Filme aus 35 Ländern warten darauf, ab dem 21. Juli auf ein sehsüchtiges Publikum zu treffen – sowohl online als auch in unseren Festivalkinos. Wir freuen uns auf euch.